Sonntag, 30. Juni 2013

Seventeen again? - Ein Selbstversuch

Dieser Tage war ich seit beinahe 10 Jahren nun mal in einem Chat. Um genau zu sein in eben jenem, in dem ich mit 17/18 Jahren regelmäßig meine Abende verbracht habe.
Es war 0:30 Uhr, ich konnte nicht schlafen, das Fernsehprogramm war mal wieder langweilig, lernen kann ich um diese Uhrzeit einfach nicht und jetzt anfangen das Bad zu putzen fand ich dann irgendwie doch sehr absurd ^^
Und mit einem Mal ploppte mir dieser Gedanke in den Kopf: Hey, chatten...macht man das eigentlich noch? Ist das noch so reizvoll wie früher? Was genau daran war eigentlich reizvoll? Warum wäre es heute interessant? Oder wäre es das überhaupt oder wäre es einfach nur langweilig, ernüchternd, mies?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden: Ein gnadenloser Selbstversuch.

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Zunächst mal gebe ich "Chat" in Google ein - und stelle gleich mal ziemlich enttäuscht fest, dass sich an der Intention, mit der die meisten Leute offensichtlich Chatrooms nutzen, nicht viel geändert hat: denn ich finde ausschließlich solche, die mich meist explizit, mindestens aber eindeutig implizit zum Zweck des Flirtens animieren wollen.
1. Feststellung also: Wieso gibt es eigentlich keine Chats, in denen Flirten nicht das Hauptthema ist? Wieso wird in den Weiten des Internets kein Raum geschaffen, in dem man sich einfach ganz normal mit anderen Menschen unterhält, über Gott und die Welt? Das stellt meiner Ansicht nach eine echte Marktlücke dar. Wie sagt mein Vater immer so schön? "Idioten gab es schon immer, aber seit es Internet gibt, finden die sich alle untereinander." - Warum geht das aber nicht auch umgekehrt? Warum sollten sich nicht auch nette, intelligente Menschen untereinander finden und einfach angenehme und interessante Konversationen pflegen? (Womit ich nicht sagen will, dass alle flirtwillige Menschen Idioten wären, aber ihr wisst schon, was ich meine, oder? ).

Nachdem ich also nicht recht fündig werde, entschließe ich mich, meinen "Stammchat" von früher aufzusuchen, denn in dem gab es zumindest immer ganz verschiedene Bereiche, wo man eine halbwegs reelle Chance hatte, abseits der eindeutig zweideutigen Rooms ebenfalls auf Menschen zu treffen, die auch einfach nur ein bisschen nett plaudern möchten (wobei ich mir da in diesem Moment auf Grund der fortgeschrittenen Uhrzeit ehrlich gesagt nicht wirklich Hoffnung mache...).
Mein ehemaliger Account ist schon lange gelöscht, aber man kann sich als Gast anmelden. Sehr gut, denke ich, ohne jegliches Profil ist man gleich nochmal um einiges anonymer. Und an dieser Stelle wird mir nun auch bewusst, was ich (aus heutiger Perspektive) am Chat als reizvoll empfinden könnte: man hat die Chance auf absolute Anonymität und kann gerade deshalb mit einer völlig fremden Person sogar sehr vertraut reden, kann ganz offen seine Meinung kundtun. Man muss sich nicht die Bohne drum scheren, wie man denn bei dem unbekannten Gegenüber ankommt. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, entweder man findet eine gleichgesinnte Person und kann einen interessanten Abend verbringen, oder man loggt sich einfach wieder aus und ist für immer verschwunden. Es gibt keinerlei gesellschaftliche oder moralische Konsequenzen.
2. Feststellung: Meine heutige Intention einen Chat zu nutzen, geht nicht unbedingt konform zu jener als ich 17 war. Vor allem wohl deswegen, weil ich mir damals einfach keine konkreten Gedanken darüber gemacht habe, warum ich das tue. War halt so, hat man halt mal ausprobiert, fertig. Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann ist, dass ich auch vor gut 10 Jahren schon keine Lust darauf hatte, gezielt zum Flirten/Aufreißen (lassen) in den Chat zu gehen (mannomann war ich brav...^^).

Nachdem mir ein Zufalls-Gastname vergeben wurde lande ich mit einem Klick in der Meute der nächtlichen Chatter. Und während ich versuche mich erst mal zu orientieren, werde ich bereits mit etlichen Privatanfragen bombardiert. Diese kommen ausschließlich von männlichen Chattern, deren Nicknames allein mir zumeist schon verraten, aus welchen Gründen SIE hier sind, ohne dass ich die Nachricht selbst gelesen haben muss....ich bin also direkt in besagten Flirtbereich reingekracht. Ich versuche überfordert, die Nachrichtenflut zu ignorieren und mich daran zu erinnern, wie man hier den Raum wechselt - um dann festzustellen, dass man als Gast dieses Privileg offensichtlich nicht besitzt. Scheiße. Jetzt heißt es gehen oder bleiben.
Da diese ganze Aktion hier neben schlichter Langeweile ja auch einen experimentellen Charakter haben soll, entschließe ich mich erst mal zum Bleiben und öffne einige der Nachrichten....
3. (zwar vermutete aber dennoch mehr als ernüchternde) Feststellung: "Flirten" war verdammt milde ausgedrückt! Aus ungefähr 10 Anfragen sind gut 8 dabei, die minimum ohne Umschweife mit dem Standard-Fragekatalog "wie alt bist du, woher kommst du, wie siehst du aus" beginnen, oder aber gar noch wesentlich deutlicher werden...(Einzelheiten werde ich  hier schon allein aufgrund von Jugendschutzbestimmungen nicht posten...). Mich beschleicht der Verdacht, dass das hier keine gute Idee war.

Es folgt ein neuer Wendepunkt, an dem sich wiederum zwei Möglichkeiten eröffnen: Erstens die eigene Intention eines eventuellen mitternächtlichen, netten Gesprächs über Bord werfen (und das Niveau gleich mit) und nun wirklich aufs extremste zu experimentieren... .Oder zweitens mit den 2 verbleibenden Anfragen, die zumindest erst einmal mit einem relativ unverfänglichen "hi, wie geht's" beginnen, sein Glück versuchen.
Ich entschließe mich für Option Nummer 2 und wähle aus den beiden potenziellen Chatpartnern die jüngere Person aus, weil ich mich gerade in Anbetracht der sehr ernüchternden Situation dem Vorurteil der "alten perversen Säcke" nicht erwehren kann und nicht wirklich Böcke habe, mich mit "xy52" zu unterhalten...
4. Feststellung: Es gibt echt verdammt perverse Freaks! 

Ich kürze das ganze jetzt mal ein wenig ab: Der eindeutige Nachteil, als Gast nicht den Raum wechseln zu können wird ein stückweit durch den Vorteil wettgemacht, dass man mit jedem neuen Login auch einen neuen Namen bekommt. D.h. wenn die Gespräche echt unterirdisch niveaulos werden (Feststellung am Rande: so experiemntierfreudig bin ich eindeutig nicht), kann man sich ausloggen, 5 min warten, wieder einloggen --> neue Chance. Denn dann kann man schon mal gleich diejenigen, die einen mit ihren Perversitäten vertrieben haben, von vornherein ignorieren und erhöht mit diesem Ausschlussverfahren wieder ein wenig die Chance, doch noch jemanden Normales in dieser Freakshow hier zu finden...
5. Feststellung: Es braucht exakt 5 neue Logins, bis man endlich - und eigentlich schon völlig entmutigt - doch noch das bekommt, worauf man gehofft hatte.

Es ist inzwischen fast 2:00 Uhr und ich unterhalte mich mit "Gast xy". Aus dem typischen Fragekatalog klären wir lediglich das Alter ab. Keine Namen, kein Wohnort, keine Beschreibung des Äußeren. Stattdessen hangeln wir uns von simplen Smalltalkthemen wie Beruf, Hobbys, Filme etc. allmählich zu eben jenen Thematiken vor, über die zu sprechen mit einer wilfremden Person wirklich interessant und amüsant ist. Sei es die sich natürlich anbietende Diskussion über die Vor- und Nachteile dieser virtuellen Welt, die Frage, warum es hier so viele Idioten gibt und ob diese wirklich eben solche sind, oder einfach nur die Option einer anderen Identität ausnutzen und ebenfalls sozusagen experimentelle Studien betreiben. Oder sei es eine Unterhaltung über typische Geschlechterrollen und die gesellschaftlichen Konventionen, die damit verbunden sind. Oder oder oder...
6. Feststellung: Wenn man am anderen Ende des Bildschirms eine Person gefunden hat, mit der zu reden es sich wirklich lohnt, dann kann es tatsächlich vorkommen, dass man erst ins Bett kommt, wenn es draußen schon dämmert. Und es kann vorkommen, dass man selbst dann noch nicht sofort einschlafen kann, einfach deshalb, weil das gerade Erlebte noch so wunderbar nachhallt....

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Nein, ich hab mich nicht wieder wie 17 gefühlt. Zwar hatte ich auch schon seinerzeit keine Lust auf diese Art des "Flirtens" (und aus heutiger Sicht bin ich ja nun auch echt mal schockiert, wie wenig Jugendschutz im Internet betrieben wird...nur gut, dass ich so vernünftig erzogen war, jetzt mal ohne Mist), aber schlussendlich trieben mich vor allem Neugier, die Suche nach einem neuen Zeitverteib und der Massentrend nahezu allabendlich in den Chat. Auf die damaligen Details möchte ich hier nicht eingehen, das ist eine Geschichte für sich...
Heute, fast 10 Jahre später, war dieses "Experiment" oberflächlich betrachtet aus Langeweile entstanden, unterschwellig aber mit dem Wunsch und der stillen Hoffnung verbunden, es möge so etwas wie eine "Seelenverwandschaft" zwischen Menschen bestehen und falls ja, dass diese Menschen sich dann auch in den Wirren der virtuellen Welt finden mögen. Und das meine ich in keinster Weise auf eine "Wo ist mein Traumprinz"-Art sondern eher auf einer, nennen wir es spirituellen Ebene.
Das Ganze mag einem romantisch-verkitschten Grundgedanken entsprungen sein. Und dieser mag rein objektiv betrachtet auch so gar nicht zur Realität und dem Wesen des Chattens passen.
Und dennoch hat das Experiment in gewisser Weise Erfolg gezeigt. Ich will zwar weiß Gott nicht soweit gehen, besagten Chatter xy als Seelenverwandten zu bezeichnen. Aber immerhin doch als eine Person, die es vermochte mich einen Abend lang aus dem Alltagstrott und dem immerwährenden Kopfschütteln über die große Masse dieser Gesellschaft herauszuholen. Und ich behaupte, dass ich für jenen Chatter ebenfalls eine solche Person dargestellt habe. Einfach nur, indem wir uns ein paar Stunden (gut) unterhalten haben.
Ich finde, das ist durchaus denkwürdig.



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