Wenn man nach einem wundervollen Abend, der einem eine Zeitreise zu einem der schönsten Punkte der eigenen Vergangenheit schenkt, einfach nur das Bedürnis hat zu weinen - sind das dann Tränen der Freude oder Wehmutes?
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Die innerliche Vorbereitung:
Ehemaligen-Treffen an der Schule, an der man seine Ausbildung gemacht hat. Also nicht jahrgangsspezifisch, es könnten alle möglichen Leute anwesend oder auch nicht anwesend sein. Sicher weiß man nur von 2 Leuten, dass sie da sein werden, das ist schon mal gut. Ansonsten, man wird sehen. Bloß nicht die Erwartungen unnötig hochschrauben. Das geht immer in die Hose.
Ich verlasse also gegen halb sieben mit einer freudig-gesetzten "mal sehen"- Stimmung das Haus.
Das Ankommen
Erst mal Parkplatzsuche. Wie früher. Kurzes Durchklingeln bei Nicole. Ist schon da. Schön, ich auch gleich.
Schon das erste Gesicht das mir beim Eintreten entgegenblickt ist mir bekannt und lange nicht gesehen. Ein kurzer Plausch, ein kurzes Update, die letzten 4 Jahre zusammengefasst in nicht mal fünf Minuten. Strange.
Ich entdecke Nicole, seit Monaten haben wir vergebens versucht, uns mal wieder zu treffen. Jetzt sitzen wir gemeinsam in der immer noch vertraut wirkenden Aula.
Der frühe Abend
Tatsächlich kommen nach und nach immer mehr vertraute Gesichter durch die Tür, die man nicht wirklich erwartet hätte. Die Freude ist groß und überschwenglich, man ergießt sich in gemeinsamen Erinnerungen, man lacht, man scherzt, man trinkt. Man erfragt neugierig, wie es den anderen ergangen ist, was man getan hat und was man jetzt tut. Man ist erstaunt und beeindruckt über die Veränderungen im Leben der anderen oder gar an der Person selbst und man ist erleichtert und amüsiert über die Dinge, die sich nicht verändert haben.
Die Flashbacks
Man wandert gedankenverloren durch das Schulhaus, sucht sein altes Klassenzimmer auf, die kleine Küche im Keller, in der es immer so gemütlich war und in der die Sachen im Kühlschrank regelmäßig fröhlich vor sich hingammelten. Fotos, überall Fotos, von den Musicals, von den Jahrgängen. Man hängt nun selbst in der Ahnengallerie. Das ist so unwirklich.
Der Profilierungsdrang
Obwohl alle an diesem Abend wieder ein Stück weit zu der Person werden, die man damals war, einfach um der alten Zeiten willen, breitet gleichzeitig jeder offenherzig seinen Lebensweg aus, den er seit der gemeinsamen Zeit ohne die anderen gegangen ist. Und das nicht zuletzt zu Vergleichszwecken.
"Habe ich so viel erreicht wie anderen?" "Kann ich mithalten?". Man lässt es sich selbstverständlich nicht anmerken, aber dieser nervige Profilierungsdrang schwebt eine Zeit lang über der eigentlich tiefenentspannten Nostalgieatmossphäre, in die man sich so gemütlich eingelullt hat....
Die Sentimentalität
Glücklicherweise ist das Nostalgiegefühl stärker als das Konkurrendenken und schlägt dieses mit einem weiteren Bier und einer weiteren Anekdote, über die man herzlicht lacht, gnadenlos in die Flucht.
Und dann schlägt es sich selbst um, in grenzenlose Sentimentalität. Man neigt nun schon zum Glorifizieren der gemeinsamen Zeit...und selbst bei jenen Erinnerungsfetzen, die eher unliebsam sind, ausgelöst durch Personen, bei denen man einfach nicht weiß, wie man ihnen gegenübertreten soll...ja, selbst hier bekommt man mit einem mal das unerträglich sentimentale Gefühl, dass es vielleicht doch stimmen könnte, dass die Zeit diverse Wunden heilen kann...(aber die letzte Skepsis darüber will sich selbst bei aller Sentimentalität nicht vertreiben lassen).
Das Versprechen
Die immer noch anhaltende Wiedersehensfreude lässt einen zu übereifrigen Versprechungen hinreißen. Man will Kontakte wieder aufnehmen und sie künftig wieder besser pflegen, man will nicht noch einmal so lange warten bis zum nächsten Wiedersehen. Und mit diesen Versprechen schleicht sich der Wehmut ein. Weil man insgeheim schon weiß, dass sie ins Leere laufen, dass sich diese vielen verschiedenen Lebenswege im Laufe der letzten Jahre zu sehr voneinander entfernt haben, als dass sie noch einmal über einen längeren Abschnitt hinweg nebeneinander herlaufen könnten. Was bestenfalls bleibt, sind solche gelegentlichen, unerwarteten Kreuzungen. Aber der gemeinsame Weg ist vorbei.
Der langgezogene Abschied
Es ist dieser Wehmut des Unwiederbringlichen, der mich festhält, der mich nicht nach Hause gehen lassen will. Noch eine Zigarette, noch ein Glas, noch eine Geschichte von früher! Noch nicht zurück, noch nicht...
Die kleine, spontane Jam-Session mit Katrin und Max in "unserem" alten Musikhaus gewährt mir einen weiteren 20-minütigen Aufschub. Es ist so lustig, es ist so schön, es ist so befreiend und zugleich so beklemmend mit jeder Minute, die verstreicht.
Das Losreißen
Der Hof ist schon fast leer, nur der "harte Kern" ist noch anwesend. Wie früher. Aber auf die Weiterverlegung der Party in die Stadt verzichte ich dann doch, wenn auch unentschlossen schwerlich.
Aber nein, es ist gut jetzt, zu der "Wir feiern die ganze Nacht"- Fraktion habe ich noch nie gehört, heute nicht wie seinerzeit. Gefühlte 20 Umarmungen später mit den selben 5 Leuten, sitze ich also schlussendlich in meinem Auto (dem,
welches hier nicht ins Bild passt - denn bestimmt 4 Leute haben mich an
diesem Abend unabhängig voneinader gefragt, ob ich "Heinz" denn noch
habe *g* - tja, der hat halt Eindruck hinterlassen!).
Die innerliche Nachbereitung
Ich fahre durch die leergefegten Straßen und verfluche, dass ich nicht doch noch mitgegangen bin. Und dann zwinge ich mich, von der nun wieder hochkommenden glorifizierenden Sentimentalität und dem Wehmut Abstand zu nehmen.
Denn alles ist einfach nur gut.
Ich bin überzeugt, ich wäre heute nicht die, die ich bin, ohne diese Zeit damals.
Wir alle wären es nicht.
Und deshalb werde ich sie ewig in dankbarer Erinnerung behalten und mich in der maßlosen Freude darüber ergießen, sie erlebt - nein: gelebt, haben zu dürfen.
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"Eine Sache, die wir zu einem bestimmten Zeitpunkt sehen [....] bleibt für immer nicht nur mit dem verknüpft, was um uns her
vorhanden war, sondern ebenso treu bleibt es verbunden mit dem, was wir
damals waren."
Marcel Proust
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